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Johann Wolfgang von Goethe
„Willkommen und Abschied“
(Entstanden 1771, Erstdruck 1775)
Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht;
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht:
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer;
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!
Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Vorbemerkung
Unser Übungsgedicht I ist eines der bekanntesten und typischsten Beispiele für den „Sturm und Drang“ (ca. 1767 – 1785). Im Mittelpunkt stehen die Empfindungen des lyrischen Ichs. Alles ist bezogen auf das Individuum und sämtliche Erfahrungen werden aus dessen Perspektive dargestellt.
Zugleich bedeutet dies eine Abkehr von der parallel verlaufenden „Aufklärung“ (ca. 1720 – 1800), in der die Vernunft, die Ratio, alles bestimmt und überlagert.
Bei „Willkommen und Abschied“ handelt es sich um sogenannte Erlebnislyrik, da die wahrgenommenen Naturerscheinungen unmittelbar die Gemütsbewegungen des lyrischen Ichs widerspiegeln.
Hier sei nochmals zur Vorsicht gemahnt, den Sprecher nicht mit dem Dichter gleichzusetzen, selbst wenn Goethe das Gedicht aufgrund seiner Liebe zu Friederike Brion verfasst hat (Teil der „Sesenheimer Lieder“).
Notizen zu den zehn Schritten
1. Strophen
Das Gedicht besteht aus vier Strophen zu je acht Versen.
2. Reimschema
Durchgehend Kreuzreime, mit unreinen Reimen in den Versen 5/7, 17/19, 21/23, 30/32.
3. Kadenzen
Die Kadenzen alternieren zwischen weiblich und männlich, folgen somit dem Reimschema.
4. Metrum
Vierhebiger Jambus, Besonderheit: die ungeraden Verse sind hyperkatalektisch, d.h. sie haben eine überzählige unbetonte Silbe.
5. Enjambements
Zahlreiche Zeilensprünge, in den Versen 5/6, 7/8, 9/10, 11/12, 17/18, 19/20, 21/22, (25/26); Wirkung: treiben den Lesefluss voran, spiegeln den erregten Gemütszustand des lyrischen Ichs wider.
6. Syntax und Tempora
Tempus: Präteritum, Wechsel ins Präsens (Ellipsen!) in den letzten beiden Versen: allgemein gültige Feststellung (Fazit)
Modus: nur Indikativ
keine Modalverben
Satzbau: vorwiegend parataktisch
Man könnte auch an dieser Stelle die zahlreichen Ausrufesätze erwähnen oder diese unter Stilmitteln als Exclamationes anführen.
7. Semantik und Stilmittel
Zwei beherrschende Wortfelder: Natur und Liebe
Anmerkung zu Stilmitteln: es ist nicht nötig, jedes einzelne zu finden, vielmehr „fischt“ ihr euch diejenigen heraus, mit denen ihr dann in der Interpretation eure Deutungshypothese belegen könnt.
Anmerkung zur Zitierweise: die Punkte hier sind „freestyle“ angeführt; jeder Lehrer hat da eigene Vorlieben, also hilft auch hier nur nachfragen.
Auszug der Ergiebigsten:
Exclamatio (V. 1), Ausrufesatz (insgesamt neunmal), Hinweis: der korrekte lateinische Plural lautet Exclamationes (eine Lehrerin hat einmal Exclamatios als Fehler angestrichen)
„Herz“ (V. 1) Symbol für Liebe, Empfindung (erscheint insgesamt viermal)
Passend zu Erlebnislyrik, kann man die ersten zwei Strophen jeweils als erweiterte Metapher ausfassen.
1. Strophe
„Der Abend […] wiegte die Erde“ (der Abend kann nicht wiegen, das können nur Menschen, also Personifikation, aber Menschen können auch nicht die Erde wiegen, daher Metapher);
„in den Bergen hing die Nacht“ (die Nacht kann nicht hängen, also Metapher); (eine Eiche trägt keine Kleider, schon gar keine aus Nebel, also Personifikation, Metapher), usw.
Verstärkung durch Anapher „Es“ (V. 1/2) und Hyperbeln „Riese“ (V. 6), „Mit hundert schwarzen Augen“ (V. 8)
2. Strophe
„Der Mond […] sah […]“ (Personifikation, aber ein Mensch kann nicht von einem Wolkenhügel hervorsehen, also Metapher);
„Die Winde […] schwangen leise Flügel“, (Winde haben eigentlich keine Flügel, also Metapher),
Verstärkung durch Synästhesien „sah“ (sehen), „Duft“ (riechen), „leise“ (hören), „umsausten“ (fühlen);
„tausend Ungeheuer“ (Hyperbel)
Anapher (V. 15, V. 16)
Noch mehr Metaphern (V. 15, V. 16)
3. Strophe
zahlreiche einzelne Metaphern, etwa „die milde Freude / Floß“ oder
„rosenfarbnes“ (auch Farbsymbolik mit Kitsch-Alarm!)
Verstärkung durch Alliteration und Hyperbel „jeder Atemzug“
4. Strophe
Mehr Metaphern, etwa „Verengt der Abschied“;
Chiasmus in den letzten beiden Versen, zum Ausdruck der Gegenseitigkeit, der allumfassenden Liebe
Also, die Exclamationes (auch zur Syntax passend), das Symbol „Herz“, und zwei oder drei Metaphern dürften genügen, um in der Interpretation eure Deutungshypothese belegen zu können.
Für die Epoche typisch, strebt der Dichter eine Vereinigung von Natur, dem Göttlichen (Götter im Plural!), und der Liebe an, alles gefiltert durch die Perspektive eines Individuums.
„Strum und Drang“, Erlebnislyrik
8. Motive
Als Hauptmotiv steht ein Situationsmotiv, das sich bereits im Titel findet: der Weg zu der Geliebten und die Trennung von dieser.
Als Nebenmotive erscheinen das Zeitmotiv (Abend bis Morgen, implizierte Nacht mit der Geliebten) und das Raummotiv (Natur, gemäß Erlebnislyrik).
9 .Kommunikationssituation
Lyrisches Ich, ab dem ersten Vers vorhanden, „mein“.
Adressatenbezug: lyrisches Du ab V 17 präsent, „Dich“.
10. Titel und Aufbau
Eindeutig bildhafte Lyrik, allein schon durch die zahlreichen Metaphern.
Linearer Aufbau, zeitlicher Verlauf vom Abend bis zum nächsten Morgen.
Zum Titel: Der Name ist Programm!