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Analog zur Epik, wo der Autor einen Erzähler erfindet und einsetzt, um die Handlung darzustellen, gibt es in jedem Gedicht einen Sprecher.
Vorsicht Falle! Der Dichter, das heißt der Verfasser des Gedichts, ist niemals mit dem Sprecher gleichzusetzen, selbst wenn der Text auch noch so stark autobiographisch geprägt sein mag.
Bei „Willkommen und Abschied“ etwa hockt keineswegs der hormongesteuerte Johann Wolfgang auf dem Pferd und galoppiert seiner Angebeteten entgegen. Goethe hat sicherlich Ähnliches erlebt, aber dennoch spricht in dem Gedicht ein lyrisches Ich.
Drei Arten von Sprechern
Man unterscheidet drei Arten von Sprechern.
Lyrisches Ich
Sehr leicht zu erkennen an Personal- und Possessivpronomen in der 1. Person Singular (ich, mein), selten auch im Plural (wir, unser). Üblicherweise stehen hier dessen Gedanken und Gefühle, Wünsche und Fragen im Vordergrund. Dieser Sprecher ist typisch für Erlebnislyrik.
Rollengedicht
Eine Figur als Sprecher bedient sich zwar auch der 1. Person Singular, wird aber im Gegensatz zum lyrischen Ich namentlich genannt (Titel beachten!) oder sie tritt in einer Rolle auf (etwa als ein Bauer, der die Feudalherren anklagt).
Häufig erscheinen mythologische Gestalten oder Vertreter bestimmter sozialer Gruppen. Man nennt dies dann ein Rollengedicht.
Verdeckter Sprecher
Sofort zu erkennen am Fehlen jeglicher Personal- und Possessivpronomen der 1. Person Singular. Entsprechend trifft diese Art von Sprecher nur Aussagen über andere Lebewesen, Gegenstände, Sachverhalte und Vorgänge, nicht aber über
sich selbst.
Diese objektive Sprechweise erinnert an das aus der Epik bekannte neutrale Erzählerverhalten.
Adressatenbezug
Um die Kommunikationssituation vollständig zu klären, stellt sich noch die Frage, an wen sich der Sprecher eigentlich richtet.
Oftmals gibt es keinen genannten Adressaten, manchmal aber wendet sich der Sprecher an ein bestimmtes Wesen (einen Menschen, einen Gegenstand) oder richtet sich an den Leser selbst (appellativ, etwa in politischen Gedichten).
Hinweis: Falls ein lyrisches Ich eine andere Figur anspricht, besonders in Liebesgedichten die Angebetete, liegt die Versuchung nahe, diese als lyrisches Du zu bezeichnen.
In vielen Fachbüchern erscheint das als völlig angemessen, jedoch stellt sich da so manche Lehrkraft störrisch. Also gilt wie immer: nachfragen.
Das letzte verbleibende Puzzlestück in unserer Analyse liefert uns die Betrachtung des Titels und des Aufbaus.